Abstract
ZusammenfassungNach zwölf Jahren intensiver Forschung etablierte der Ophthalmologe Theodor Leber (1840–1917) am Ende des 19. Jahrhunderts in der Entzündungsforschung die Chemotaxis der Leukozyten. Obwohl sich seine Theorie damals reibungslos in die immunologische Forschung einschrieb, wird sein Name jedoch bis heute nur in der englischsprachigen Fachliteratur mit der Chemotaxis verknüpft. In seinem Experimentalsystem hatte Leber zwar schon Anfang der 1880er Jahre eine Theorie der chemischen Attraktion der Leukozyten beim Entzündungsprozess entwickeln können. Aber seine unkonventionelle Methodik—die Einführung von chemisch indifferentem Fremdmaterial zur Auslösung einer Entzündung am Kaninchenauge—widersprach schon vom Ansatz her dem zu diesem Zeitpunkt dominant bakteriologischen Denkstil der Entzündungsforschung. In diesem Forschungsfeld hielt Leber an einer Forschungspraxis fest, die aus einer engen Verzahnung von experimenteller und theoretischer Arbeit bestand. Erst als eine Öffnung des bakteriologischen Denkstils eingetreten war, gelang es Leber seine auf losen Protokollseiten festgehaltenen Versuchsbeobachtungen in überzeugende Belege seiner Entzündungstheorie zu transformieren. Die mikrohistorische Rekonstruktion von Lebers experimenteller und schriftlicher Arbeit anhand seiner Laborprotokolle erschließt die Forschungspraxis eines Wissenschaftlers, der in der damals etablierten mikrobiologischen Entzündungsforschung kaum Anerkennung fand. Durch Verbindung der mikrohistorischen Rekonstruktion mit einer makrohistorischen Analyse lassen sich außerdem Beharrungsfaktoren im Prozess der Wissensentstehung offenlegen. Leber entwickelte eine spezifische Papiertechnik, durch die er seine experimentellen Erkenntnisse zwar mobilisierte und stabilisierte, aber nicht mit dem Fortschreiten der Wissenschaft mithalten konnte.