Abstract
Krankheit und Geschlecht sind in ihrer normativen Dimension eng miteinander verknüpft. Judith Butlers Modell der performativen Herstellung von Geschlecht lässt sich für die Analyse der geschlechtsspezifischen Konstituiertheit psychosomatischer Krankheitsbilder nützen. Krankheit erweist sich als soziokulturell hervorgebrachte und geschlechterpolitisch wirksame Konstruktion und Deutung körperlicher und psychischer Zustände. In der Ausformung von Krankheitsbildern, ihrer Interpretation und Behandlung werden geschlechtlich markierte Körper inszeniert. Die Performativität von Krankheit und Geschlecht manifestiert sich in den Phänomenen der hysterischen Konversion, der Anorexie und Bulimie, des selbstverletzenden Verhaltens sowie der multiplen Identität. In der überzeichneten Verkörperung von Weiblichkeitsstereotypen in diesen so genannten „Frauenkrankheiten“ wird das Kontinuum zwischen „normaler“ Frau und „pathologischer“ Weiblichkeit deutlich. In der Ambiguität von Anpassung und Eigenwilligkeit werden Weiblichkeitsnormen hier sowohl bestätigt als auch subvertiert. Ein feministisches Gesundheits- und Krankheitsverständnis ermöglicht mit der Perspektive normativer Konstituiertheit von Weiblichkeit und Männlichkeit eine neue Herangehensweise an die Zusammenhänge von Psyche und Körper, Geschlecht und Gesellschaft. Kein Körper, keine Krankheit und kein Geschlecht existiert außerhalb des Prozesses soziokultureller Bedeutungskonstruktion. Die Perspektive der Intersektionalität von Krankheit und Geschlecht bietet emanzipatorisches Potenzial für Beratung, Psychotherapie und Medizin. Das Konzept der Performativität eröffnet neue Perspektiven auf feministische Handlungsfähigkeit. Feministische Philosophie kann somit auch in der psychosozialen Beratung als emanzipatorische gesellschaftliche Praxis wirksam werden.