Abstract
Seit dem Auftreten von Emmanuel Levinas ist die Frage hinsichtlich einer Deformalisierung der Ethik wieder aktuell geworden. Es liegt vor der Hand, Levinas' Fundamentalethik mit der Kants zu vergleichen. — Worin besteht der vielbesprochene „Formalismus” der Kantschen Moral? Keinesfalls kann von einer gänzlichen Verkennung der inhaltlichen Bestimmungsgründe des Willens die Rede sein. Eher könnte man darauf hinweisen, dasz Kant die Verwurzelung gewisser kategorischer Imperative in typischen sozial-historischen gesellschaftlichen Strukturen zu wenig Gewicht beigemessen hat. Auch die Problematik der asymmetrischen Beziehungen, der Beziehungen, die für „ Gemeinschaft” (im Gegensatz zu „Gesellschaft”) typisch sind, ist ihm entgangen. — Der Verfasser erörtert ferner die Frage, ob Kant gut daran getan hat, seine Tugend-und Pflichtenlehre in einem gewissen Parallelismus mit seiner Rechtslehre zu entwickeln. Er vergleicht den Begriff der „Pflicht” mit dem des „Opfers”, wobei er unter letzterem die spontane Opferwilligkeit versteht, die sich nicht an die Grenzen der formalen Schuldigkeit hält. Vielleicht besteht das primäre ethische Phänomen darin, dasz ich ursprünglich bereit bin, Verantwortung für meinen Nächsten zu tragen. Der Nächste ist dabei jeweils ein Einziger, und zwar ein Einziger in Bezug auf mich. Ueberdies ist jedes Opfer bereits infolge der Temporalität meines Daseins einmalig und nicht wiederholbar. Die unmittelbare Bereitschaft, für den Nächsten in die Bresche zu springen, ist Levinas zufolge die vorreflexive Grundlage, auf der jedes Moralsystem beruht. Levinas' Ethik underscheidet sich insoferne von der Kants, als der erstere in der Unizität des Nächsten und der einzigartigen Verantwortung für ihn ein Absolutum sieht, letzterer dagegen in der Universalität und Notwendigkeit ethischer Pflichterfüllung. Ferner beruft sich der französische Denker in erster Instanz auf die Unmittelbarkeit der sittlichen Erfahrung, während Kant mit moralischen Reflexionsbegriffen arbeitet. — Der Verfasser führt zuletzt den Nachweis, dasz Kant dem Gesichtspunkt der Deformalisierung mitunter Rechnung trägt, freilich um den Preis gewisser Inkonsequenzen