Abstract
Philosophieren war Ludwig Wittgensteins Leben und Leiden. Es ließ ihn leben, schuf ihm Leiden und ließ ihn Mittel und Wege finden, die Leiden zu therapieren. Ihm standen alle Möglichkeiten zum Philosophieren zu Gebote, enormer Wohlstand der Familie, gute Bildung, brillante Begabung, leidliche Gesundheit, Gesprächspartner auf Augenhöhe. Er orientierte die Philosophie von Grund aus um; seine Neuorientierungen beschäftigen uns weiter. Er selbst litt auch unter seiner Begabung, weil er in ihr nur ein Talent sah, und bis zum Schluss war ihm nicht klar, worauf es mit seinem Philosophieren hinauswollte. Es fiel ihm lange schwer, daraus ein erträgliches Leben oder gar so etwas wie eine,Lebenskunst‘ zu machen – er gebrauchte den Begriff selbst nicht. Er war von äußerster Strenge gegen andere und sich selbst. Kurz vor seinem Tod schrieb er: „Gott kann mir sagen:,Ich richte Dich aus Deinem eigenen Munde. Du hast Dich vor Ekel vor Deinen eigenen Handlungen geschüttelt, wenn Du sie an Andern gesehen hast“ (1984b, 1951, S. 573). Aber unmittelbar vor seinem Tod ließ er seinen Freunden ausrichten, dass er „ein wundervolles Leben hatte“ (Tell them I had a wonderful life; Monk 1992, S. 612). In der Spannung von Verdüsterung und Verklärung rettete er sich in ein asketisches Ideal, das Ideal der Reinheit im Leben und der Klarheit im Denken. Es machte ihn zum Arbeitstier. Mit der Zeit lockerte sich das Ideal. Das Philosophieren konnte sich selbst helfen, sich selbst therapieren. Philosophieren wurde für Wittgenstein zur Lebenskunst.