Abstract
ZusammenfassungDer Beitrag rekonstruiert erstmals den 1869 erschienenen Aufsatz »Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins« des Neukantianers Hermann Cohen. Der in der Fachgeschichte der Literaturwissenschaft unbekannte Text stammt aus Cohens vor-neukantianischer Phase und orientiert sich an der Philosophie Johann Friedrich Herbarts. Unter Rückgriff auf Herbarts Apperzeptionsbegriff, die Mythentheorie Jacob Grimms und das völkerpsychologische Konzept der ›Verdichtung‹ entwirft Cohen mit Blick auf die »formalen Elemente«, die der Mythos in der Moderne freisetzt, ein Wissenschaftsprogramm der Literaturwissenschaft, das sich von der philologisch, nationalliterarisch und geistesgeschichtlich orientierten Germanistik des 19. Jahrhunderts distanziert – was den Text in die Genealogie der formalistischen Grundorientierungen des 20. Jahrhunderts einreiht.The article reconstructs for the first time the essay »Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins« by the Neo-Kantian Hermann Cohen, published in 1869. The text, unknown in the history of literary studies, belongs to Cohen’s pre-neo-Kantian phase and is oriented on the philosophy of Johann Friedrich Herbart. With recourse to Herbart’s notion of apperception, Jacob Grimm’s theory of myth and Moritz Lazarus’ folk psychological concept of ›Verdichtung‹, Cohen creates with regard to the »formal elements«, released by myth in modernity, a scientific program of literary studies which differs from the philological, national literary and ›Geistesgeschichte‹-based Germanistik of the 19th century. This places the text in the genealogy of the basic formalist orientations of the 20th century.