Hermes 135 (3):334-351 (
2007)
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Abstract
Diese kurzen Beispiele geben einen Eindruck davon, wie vielfältig die Verfahren sind, mit denen der epitomierende Autor seiner Aufgabe der Verkürzung einer literarischen Vorlage gerecht zu werden sucht. Die Raffungen und Verknappungen finden auf allen Ebenen des Ausdrucks statt, sprachlich, syntaktisch, inhaltlich durch Zusammenfügung von Szenen. Auf der anderen Seite wird große Sorgfalt darauf verwandt, den Leser in diesen Prozess mit einzubeziehen. Dies geschieht auf zunächst scheinbar divergierenden Wegen. Einerseits erhält der Leser implizite und explizite Hinweise auf das verkürzende Vorgehen. Andererseits gibt es auch Passagen, insbesondere die Anfangsverse, in denen dem Leser suggeriert wird, mit einer wörtlichen Wiedergabe des griechischen Originals in lateinischer Sprache konfrontiert zu sein, deren Tempo dann aber bald rapide beschleunigt wird. Die Technik des ‚vertere‘ steht also dem Verkürzen als verwandt, aber doch verschieden, im selben Werk gegenüber. Es lässt sich also an diesem häufig als Schulübung abqualifizierten Stück aus neronischer Zeit Grundsätzliches beobachten, sowohl für die epische Technik und deren Beurteilung durch die antiken poetischen Epitomatoren selbst, als auch für den geistigen Vorgang des Zusammenfassens und Resümierens. Deshalb möchte ich Scaffais Behauptung, die „Ilias Latina“ sei nicht eigentlich eine systematische Epitome, sondern eine freie Überarbeitung des homerischen Gedichts, nicht zustimmen, sondern bin zuversichtlich, dass Wirkungsabsicht und Wirkung einer solchen ‚poetischen Kurzfassung‘ sich gerade am Beispiel dieses Textes einleuchtend demonstrieren lassen.