Zum Verhältnis von Interpretation und Deskription: Ein Bestimmungsvorschlag und ein Beispiel
Abstract
Der Beitrag untersucht die Beziehung zwischen Deskription und Interpretation im Umgang mit literarischen Texten. In einem ersten Teil stellen wir den Ausgangspunkt unserer Überlegungen dar, indem wir den Unterscheidungsvorschlag zusammenfassen, den wir 2003 in dem Aufsatz Wieviel Interpretation enthalten Beschreibungen? entwickelt haben. Dieser Vorschlag grenzt Deskriptions- und Interpretationsbegriffe mit Hilfe der Anforderung ›interpretationstheoretischer Neutralität‹ voneinander ab. In Anknüpfung an diese Idee vergleichen wir im zweiten Teil des Beitrags Deskriptions- und Interpretationshandlungen miteinander, wobei die Gegenüberstellung anhand maßgeblicher Aspekte der beiden Handlungstypen wie insbesondere Zielsetzung, Verlaufsstruktur und Beurteilungsformen erfolgt. Grundidee der handlungsbezogenen Unterscheidung ist es, dass Deskriptionen im Kern Klassifikationsoperationen darstellen, während Interpretationen als Erklärungen einzustufen sind. Ausgehend von diesen Überlegungen beleuchten wir anschließend kurz die grundlegenden Funktionen, die Deskriptionen im Rahmen von Interpretationen erfüllen können, obgleich die beiden fraglichen Operationen, anders als vielfach angenommen wird, kein Kontinuum darstellen. Der dritte Teil veranschaulicht die umrissene Verhältnisstruktur am Beispiel von Kafkas Erzähltext Das Schweigen der Sirenen: Wir geben hier zunächst eine detaillierte Beschreibung der erzählten Welt des Textes und fassen anschließend einige der zentralen Auffassungen in der Auseinandersetzung um dessen Interpretation zusammen. Auf diese Weise soll noch einmal vor Augen geführt werden, dass Deskriptionen nicht bruchlos in Deutungen übergehen, und dass Interpretationen umgekehrt Beschreibungen im Einzelnen oder sogar in großen Teilen unberücksichtigt lassen und gleichwohl angemessen erscheinen können.