Wissen und Inferenz: Zum Verstehen und Interpretieren literarischer Texte am Beispiel von Hans Magnus Enzensbergers Gedicht "Frühschriften"
Abstract
Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, welche Rolle Wissen für das Verstehen und Interpretieren literarischer Texte spielt und in welchem Maße die Voraussetzung eines bestimmten Wissens in literarischen Texten angelegt ist. Im ersten Teil werden mit Bezug vor allem auf kognitionswissenschaftliche und textlinguistische Studien die leitenden Begriffe ›Interpretation‹, ›Textverstehen‹, ›Wissen‹ und ›Inferenz‹ geklärt und fünf Wissensbereiche unterschieden, die zum Textverstehen beitragen. Als besonders wichtig erweist sich der Begriff der Inferenz, der hier den Prozess bezeichnet, wie Wissen verwendet wird, um eine Textwelt aufzubauen und Formen uneigentlicher Rede Bedeutung zuzuschreiben. Für die Modellierung dieses Prozesses besonders relevant ist die Abduktion. Im zweiten Teil werden ausgehend von einer Interpretationsskizze zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht Frühschriften einige dieser Inferenzen und die Rolle, die vorausgesetzte Wissensbereiche dabei spielen, exemplarisch untersucht. Zu den Ergebnissen zählt, dass selbst in kurzen literarischen Texten sehr verschiedene Wissensbereiche einbezogen werden, dass das Gattungswissen eine besondere Rolle spielt und dass im Verstehensprozess komplexe Inferenzketten gebildet werden müssen. Eine genaue Rekonstruktion der Wissensvoraussetzungen und vom Text nahegelegten Inferenzen macht die teilweise programmatische Mehrdeutigkeit literarischer Texte besser beschreibbar.