Abstract
Wenn nach bleibenden philosophischen Beiträgen von Theodor W. Adorno gefragt wird, so werden meist drei mögliche Kandidaten erwogen: seine Analysen der spätkapitalistischen Kultur und Gesellschaft, seine Ästhetische Theorie und der von ihm entwickelte besondere Typ philosophischer Kritik, der unter dem Titel negative Dialektik bekannt ist. Seltener, wenn überhaupt, wird jemand die Ansicht vertreten, ein bleibender Beitrag Adornos bestehe in einer besonderen Moralphilosophie. Zwar trägt das am weitesten verbreitete Werk Adornos, die Minima Moralia, die Moral bereits im Titel. Jenes Buch aber hebt schon in den ersten Zeilen mit der These an, dass die Lehre vom richtigen Leben heute nicht mehr der eigentliche Bereich der Philosophie sein könne, da das, was der Philosophie einmal »Leben hieß, [...] zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden« sei. Statt einer Lehre vom guten Leben bleibt für die Philosophie nur eine Reflexion auf seine Beschädigung möglich. Wo immer Adorno sich der Moralphilosophie selbst zuwendet, markiert er in diesem Sinne vor allem ihre Antinomien und Aporien. Die Annahme liegt nahe, dass die Herausstellung solcher Widersprüche nur darauf zielen kann, uns vorzuführen, dass die Moralphilosophie ihren Gegenstand nicht – oder: nicht mehr – zu denken vermag und allenfalls expressive Funktionen hat für eine Gesellschaft, die von Antagonismen durchzogen ist. Eine positive Theorie der Moral scheint in diesem Sinne durch die Form unserer Gesellschaft und die ihr korrespondierenden Formen des Denkens verstellt.
Gegen diese durchaus begründete Lesart möchte ich im Folgenden die These vertreten, dass Adornos Beiträge in diesem Feld noch eine weiterreichende Deutung erlauben. Die Aporien der Moralphilosophie verweisen nicht allein auf ihnen unterliegende gesellschaftliche Widersprüche, sondern zugleich auf innere Spannungen, die dem moralischen Handeln wesentlich sind: In der kritischen Reflexion auf die moderne Moralphilosophie und moralisches Handeln in der modernen Gesellschaft gewinnt Adorno eine dialektische Bestimmung dieses Handelns, dergemäß es sich dadurch auszeichnet, dass es Widersprüche des Handelns auf besondere Weise austrägt. Die ›Aporien der Moralphilosophie‹ verweisen für Adorno so auf eine ›Moral der Aporien‹ – sie verweisen auf innere Spannungen, die für das Moralische selbst konstitutiv sind. Moralisches Handeln ist dadurch charakterisiert, dass es die Spannungen von Besonderem und Allgemeinen, Freiheit und Gesetz, Natur und Geist, die menschliches Handeln wesentlich ausmachen, als Spannungen aushält und austrägt. Eine aporetische Moralphilosophie verweist so nicht zwingend auf die schlichte Unmöglichkeit ihres Gegenstands oder ihre eigene Unangemessenheit. Im Herausstellen innerer Widersprüche des Moralischen kann vielmehr im Gegenteil eine Erkenntnis des Moralischen liegen: eine Erkenntnis seiner dialektischen und gespannten Natur.