Abstract
Die im 1./2. Jahrhundert n. Chr. von einem Anonymus verfaßte Vita Aesopi (= VA), eine „fiktionale Biographie mit Elementen des komisch-realistischen Romans“ (2), wurde zu Beginn der Neuzeit in aller Welt dadurch bekannt, daß sie in lateinischer und deutscher Übersetzung als einer von mehreren Texten in Heinrich Steinhöwels Esopus von 1476/77 erschien, einem „Bestseller“ der Frühdruckzeit. Aber das griechische Original des VA-Textes, der im 16. Jahrhundert z.B. den Autoren des Lazarillo de Tormes und des Till Eulenspiegel wichtige Anregungen gegeben haben dürfte, entsprach in seinem Wortlaut nicht dem kaiserzeitlichen Text – dieser ist uns zwar nicht erhalten, aber die Version des Codex 397 in der New Yorker Pierpont Morgan Library (G) steht ihm wahrscheinlich sehr nahe –, sondern stellte eine Epitome der Urfassung dar, die recensio Westermanniana (= rec. W). Diese Version versuchte Ben Edwin Perry durch Kollation von 11 Handschriften zu rekonstruieren (Aesopica, Urbana, IL, 1952, 81-107), obwohl er bemerkte, daß innerhalb der Kodizes, auch wenn sie in der Wiedergabe des Stoffs einander mehr ähneln als G, wiederum zwei Fassungen zu unterscheiden sind, repräsentiert durch die beiden Handschriftengruppen MORNLFVW und BPS. Da nun der in Steinhöwels Ausgabe publizierte und von neuzeitlichen Autoren mehrfach rezipierte Text der VA – es handelt sich dabei um die lateinische Übersetzung des Rinuccio da Castiglione d'Arezzo – in griechischer Sprache in einem Kodex stand, der als Ahn von P gelten darf, ist es sehr verdienstlich, daß K. die eine der beiden Fassungen von rec. W, die so besonders wirkungsmächtig war – sie ist wahrscheinlich ins frühe 6. Jahrhundert zu datieren, und ihr sind außer B, P und S das Kodexblatt Th und die erst 1991 aufgetauchte Hs. A zuzuordnen –, als selbständigen Text der VA herausgegeben und zugleich sowohl literaturgeschichtlich als auch sprachwissenschaftlich analysiert hat.