Abstract
Das demokratische Verfahren ist nach Rawls‘ Auffassung als unvollständig verfahrensgerecht zu charakterisieren, da es das verfahrensexterne Ziel der Verwirklichung der zwei Gerechtigkeitsgrundsätze nicht garantieren kann. Ungerechte Zustände können entstehen, da der deliberative Prozess fehlschlagen und Mehrheiten sich irren können. Im Fall ernsthafter Gerechtigkeitsverletzungen ist deshalb die Praxis zivilen Ungehorsams als voraussetzungsreiche Ausnahme von der Pflicht zum Gehorsam gegenüber der Autorität demokratischer Ordnungen gerechtfertigt. Rawls definiert zivilen Ungehorsam als ein in der Öffentlichkeit vollzogenes, eindeutig illegales und gewaltfreies Handeln, das angesichts von Ungerechtigkeit einen symbolischen Appell an den Gerechtigkeitssinn der Mitbürger*innen richten möchte. Diese Definition ist bis heute überaus einflussreich. Aufgrund ihrer optimistischen Prämisse von fast-gerechten Gesellschaften und ihrer Verhaftung im nationalstaatlichen Rahmen ist sie jedoch auch vielfältiger Kritik ausgesetzt.