Abstract
Obgleich von vielen Moralphilosophen für obsolet erklärt, wird der moralische und politische Rekurs auf religiöse Traditionen von vielen Gläubigen keinesfalls als obsolet betrachtet. Ich untersuche, auf welchen Gründen diese Praxis basiert, und mit welchen Argumenten sie kritisiert werden kann. Es geht mir dabei ausschließlich um interne Kritik, um die Frage also, ob es aus der Perspektive der Gläubigen selbst gute Gründe gibt, darauf zu verzichten, partikulare religiöse Interessen zum Fundament allgemein verbindlicher intersubjektiver Forderungen zu machen. Hierbei sollen nicht pragmatische Gründe im Vordergrund stehen, etwa das Fehlen von Machtmitteln; vielmehr soll gefragt werden, ob es Gründe gibt, einfach deshalb darauf zu verzichten, religiös fundierten Zwang auszuüben, weil es religiöse Gründe wären, die die Intoleranz motivierten. Ich versuche zu zeigen, dass Gläubige bestimmte, von Moralphilosophen vorgetragene Argumente nicht akzeptieren müssen: weder machen Gläubige semantische Fehler, wenn sie religiös motivierte Forderungen erheben, noch müssen sie den speziellen, emphatischen Vernunftbegriff anerkennen, vor dessen Hintergrund solche Forderungen irrational erscheinen. Bereitschaft zur Toleranz nicht glaubenskompatibler Praktiken kann jedoch u.a. aus einer Reflexion auf den epistemischen Status des Glaubens erwachsen.