"Rhetorische und göttliche Gewalt. Überlegungen im Anschluss an Walter Benjamin".
Abstract
In seinem Text Zur Kritik der Gewalt unterscheidet Walter Benjamin zwischen rechtssetzender und rechtsverwaltender Gewalt einerseits und göttlicher Gewalt andrerseits. Während erstere Form der Gewalt darauf abzielt, einen bestehenden staatlichen Zustand und die ihn legitimierenden Rechtsverhältnisse zu konsolidieren und zu stabilisieren und hierbei auch noch da wirksam ist, wo, scheinbar kritisch, Reformen angestrebt werden, die den bestehenden Zustand verbessern und ihn aber gerade so in seinen Strukturen reproduzieren, sieht es Benjamin als die Eigentümlichkeit göttlicher Gewalt an, dass sie sich dieser Einbindung in das Kontinuum des Bestehenden entzieht. Anstatt Mittel zu sein zum Zweck der Erhaltung oder auch Reform eines staatlichen Zustands und anstatt die Gewalt, auf der dieser Zustand (sei es sichtbar, sei es unsichtbar) strukturell beruht, zu verschleiern, exponiert und zeigt sich göttliche Gewalt als reines Mittel: als eine Gewalt, die keinen partikularen Zweck verfolgt, sondern die sich darauf reduziert, absolut nur sich selbst zu sein, und die eben darin das Potential verkörpert, die Transzendenz des Anderen und Neuen – das als solches einen wirklichen Unterschied zu den bestehenden Verhältnissen, einen Bruch markiert – zu «vollziehen». Als das «Walten» dieser transzendierenden Kraft intermittiert göttliche Gewalt den «mythischen» Zyklus des Immergleichen, wie es sich in staatlich-rechtlichen Verhältnissen blind, ‘naturwüchsig’ reproduziert. Mit diesem Verständnis widersetzt sich Benjamin gängigen Unterscheidungen, die Gewalt (als die scheinbare Ausnahme) und Recht (als die scheinbare Norm) einander entgegensetzen und die ebenso aber unsichtbar machen, dass das Bestehende gerade in seiner ‘Normalität’ immer schon auf Gewalt beruht und sie auch noch da, wo dies verborgen bleibt, anwendet. Gewalt ist, mit Benjamin, aber nicht die Ausnahme zum Bestehenden, sondern deren in der ‘Normalität’, im ‘natürlichen’ Fortgang der Verhältnisse unsichtbar gewordener Ursprung. Zu diesem Kontinuum und zu den in ihm wirksamen Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen – so die Pointe der von Benjamin in Anschlag gebrachten göttlichen Gewalt – wäre die eigentliche und wahre Ausnahme, die dieses Kontinuum aufbricht, erst herzustellen.
Wie Benjamin es in seinem dichten Text selbst andeutet und wie es in anderen Texten, in denen er über Sprache nachdenkt, explizit vorgebracht wird, enthält dieser Zusammenhang konstitutiv auch eine sprachphilosophische Dimension: Staatlich-rechtliche Verhältnisse legitimieren sich wesentlich über sprachliche Akte. Und es gehört, entsprechend, seit ihrem paradigmatischen Ursprung im antiken Griechenland zur Funktion der Rhetorik, nützliche Argumentations-Figuren zur Verfügung zu stellen, die im politischen Mechanismus zur Erreichung bestimmter Zwecke verwendbar sind. In dieser spezifisch rhetorischen Einkleidung lässt sich – so kann mit Benjamin ideologiekritisch gefolgert werden – mithin eine Form ausmachen, bestehende Verhältnisse – und die in ihnen enthaltene, zur ‘zweiten Natur’ geronnene Gewalt – zu legitimieren. Ebenso wie Benjamin hiergegen das Potential reiner göttlicher Gewalt als eine Form in Anschlag bringt, die, indem sie Gewalt als reines Mittel vorführt, die (unsichtbare) Gewalt der bestehenden Verhältnisse in die Sichtbarkeit hebt und so, performativ, die Möglichkeit einer wirklichen Veränderung ins Werk setzt, ist es das Potential der «reinen Sprache», Sprache ihrer Einkleidung in etablierte Sprachspiele und Argumentationsketten sich entziehen zu lassen und sie – als reines Mittel, das sich als solches zeigt – zu etwas werden zu lassen, das in das Bestehende nicht mehr zurückgebunden werden kann. Während die Rhetorik in ihrer Funktion zur verwertbaren Auffindung von überzeugenden argumentativen Figuren (loci communes) seit ihren griechischen und römischen Anfängen als Topik verstanden wird, kraft derer Sprache in den bestehenden Verhältnissen, diese stützend, ihren ‘Ort’ (τόπος) und ihre ‘selbstverständliche’ kommunikative Evidenz hat, zeichnet sich die reine Sprache, die sich dieser Logik einer rhetorischen Verwendung und Normalisierung konstitutiv gerade entzieht, durch ihre radikale ‘Ortlosigkeit’ (ἀτοπία) aus (wie Platon es, in seiner Kritik an der sophistischen Rhetorik, für die spezifische Position der philosophische ‘Idee’ (auf deren Terminologie Benjamin an anderen Stellen immer wieder Bezug nimmt) im Bestehenden geltend macht).
Es ist Ziel der vorliegenden Überlegungen, im hermeneutischen Ausgang Benjamins diesen Zusammenhang zwischen rhetorischer und göttlicher Gewalt darzustellen und auf das von ihm eröffnete kritisches Potential im Blick auf das Verhältnis zwischen den beiden Größen des Themenschwerpunktes – Rhetorik und Gewalt – hin zu befragen.