Abstract
Aktuelle Theorien der ästhetischen Erfahrung versprechen eine Entlastung von Sinnfragen zugunsten einer Kultur der Präsenz und der gesteigerten Sensibilität der Wahrnehmung, in der das Unvermittelte des Ereignisses rein hervortreten soll. In den starken Wirkungen erscheinen das Bedürfnis und der Bedarf nach kommunizierbarer Bedeutung suspendiert. Der Beitrag versucht, anhand der emphatischen Rezeption von Géricaults Floß der Medusa in Hans Werner Henzes gleichnamigem Oratorium und in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss zu zeigen, dass dieser verlockende Sinn-Entzug nur um den Preis des Verlusts historischer und gesellschaftlicher Perspektiven zu haben ist. An deren Möglichkeit festzuhalten, bedeutet heute jedoch, sich von jedem Optimismus fernzuhalten, in dem die Bilder der „befreiten Enke“ die der „geknechteten Vorfahren“ überstrahlen. Ästhetischer Widerstand heute hätte vielmehr die Gegenstände seines Interesses als solche aufzufassen, die in sinnlicher Präsenz „auf Geschichte warten“.